Bei cosee führen wir alle zwei Wochen eine Unternehmensretrospektive durch. Diese Retrospektiven betrachten die gesamte Firma bzw. das jeweilige Team und sind das zentrale Element unseres Continuous-Improvement-Ansatzes. Der einzelne Mitarbeiter steht nicht direkt im Fokus dieses Feedback-Rituals. Durch Jour Fixes haben wir ein Ritual für persönliches Feedback eingeführt.
Da es neben der Retrospektive kein ritualisiertes Feedback gab, war persönliches Feedback zwischen Mitarbeitern und Führungskraft eher situationsbezogen und unregelmäßig. Im September entschloss ich mich, als Führungskraft ein Experiment zu starten. Ich wollte ein regelmäßiges persönliches Feedback-Gespräch zwischen jeweils einem Teammitglied und mir etablieren. Für dieses Jour Fixe hatte ich die folgenden Ziele:
Mit diesen Überlegungen war ich im letzten Jahr offensichtlich nicht ganz alleine. Spotify und der CTO von vaamo (Zweck, Struktur) beleuchteten das Thema „One on Ones“ in diesem Zeitraum in Form von Blog Posts und haben ähnliche Ziele.
Ich treffe mich mit jedem Teammitglied alle zwei Wochen für ungefähr 30 Minuten. Wir suchen uns einen Raum, in dem wir unter vier Augen sind – zur Not tut es auch eine stille Ecke in der Cafeteria. Mit manchen Kollegen kombiniere ich das Jour Fixe auf Wunsch mit einem Mittagessen.
Als roten Faden orientieren wir uns dabei an dem im Bild gezeigten Jour-Fixe-Bogen.
Der obere Bereich besteht aus klassischen Retrospektiven-Elementen:
Dieser Teil ist sehr rational. Im unteren Bereich geht es eher um die emotionale Komponente:
Dieses Feedback ist aufgeteilt in Punkte zum Unternehmen und Arbeitsumfeld allgemein und Management Team / Führungskraft im Speziellen.
Selbstreflektion ist wichtig für die kontinuierliche Arbeit an sich selbst. Dabei hilft es, regelmäßig Antworten bspw. auf die folgenden Fragen zu finden:
Diese regelmäßige „Nabelschau“ muss immer wieder trainiert werden, auch bei berufserfahrenen Menschen. Ein kontinuierliches Coaching durch die Führungskraft ist dabei aus meiner Sicht hilfreich. Zur persönlichen Verbesserung kann ich Personal Retrospectives empfehlen.
Wenn ich ehrlich bin, gab es persönliches Feedback vor der Einführung der Jour Fixes nur in bestimmten Situationen: wenn etwas Negatives vorgefallen war. Damit hatte Feedback immer gleich einen Eskalationscharakter: „Hey, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“. 🙁
Durch die Einführung eines Rituals hat das persönliche Feedback den Eskalationscharakter verloren. Die Teammitglieder sind gespannt, zu bestimmten Situationen Feedback zu bekommen. Ich werde durch das Jour Fixe daran erinnert, positive Punkte explizit anzusprechen. Es erlaubt dem Kollegen und mir, langfristig an seiner oder ihrer Entwicklung zu arbeiten.
Mancher wird sich fragen: „Warum wartest du mit deinem Feedback bis zum Jour Fixe und gibst den Kollegen nicht direkt Feedback?“. Im Jour Fixe haben wir einen sicheren Ort, um Feedback zu geben und zu besprechen („What happens in this room, stays in this room.“). Viele Arbeitssituationen bieten nicht diesen Kontext, weil das Teammitglied sich bspw. vor seinen Kollegen kompromittiert vorkommen könnte.
Außerdem muss das Geben und Annehmen von Feedback trainiert werden. Dieses Training funktioniert am Besten in einer ruhigen, sicheren, vertrauensvollen Umgebung.
Bei diesem Punkt steht im Vordergrund wie das Teammitglied sich fühlt, wie zufrieden er oder sie mit der Arbeit bei uns ist. Viele sagen, dass der Projektstatus in einem One on One oder Jour Fixe nichts verloren hat. Nach unserer Erfahrung hängt aber ein durchaus gewichtiger Teil von der Lage im Projekt ab. Die aktuelle Lage hat bei uns einen festen Platz im Jour Fixe, ist aber nicht als Bericht an mich als Führungskraft gedacht. Wir versuchen darauf zu achten, dass das Thema nicht zu viel Raum einnimmt. Das Jour Fixe ist kein Projektstatus-Meeting!
Durch die Vier-Augen-Atmosphäre fällt es den Teammitgliedern leichter, auf Probleme oder Missstände hinweisen, die ihnen negativ auffallen oder die sie als Anregung haben. Das kann alles Mögliche sein:
Der Vorteil dieses zweiwöchentlichen Feedbacks ist, dass die Probleme in den allermeisten Fällen noch „klein“ bzw. gerade eben erst entstanden sind. Damit fällt uns die Lösung wesentlich leichter, als für Probleme und Unzufriedenheit, die lange Zeit gewachsen sind.
Neue Teammitglieder müssen sich am Anfang erst daran gewöhnen, dass sie offenes Feedback zu allen möglichen Bereichen der Firma geben können. Die Atmosphäre ist vergleichbar mit einem ersten Date. 😉 Ich starte in dieser Situation gerne mit einer Schulnote: „Wie zufrieden bist du insgesamt mit der Arbeit bei uns?“ und „Was fehlt aus deiner Sicht zur Note Eins?“. Mit diesem Katalysator identifizieren wir gemeinsam nach und nach die Feedback-Punkte.
Feedback ist bei uns keine Einbahnstraße. Ich möchte auch als Führungskraft laufend an mir arbeiten. Deswegen ist es mir wichtig, dazu Feedback vom jeweiligen Teammitglied zu erhalten. Hierbei dreht es sich meist um eines der folgenden Themen:
Der Führungskraft offenes Feedback zu geben, ist noch anspruchsvoller als zur Firma oder zum Arbeitsumfeld. Das dafür nötige Vertrauensverhältnis muss über einige Zeit wachsen.
Während unseres Jour Fixe ergeben sich Maßnahmen für das Teammitglied. Meist stehen sie mit Punkten aus der Selbstwahrnehmung oder meinem Feedback im Zusammenhang. Auch aus dem Feedback des Teammitglieds können sich Maßnahmen ergeben. Wie bei allen agilen Retrospektiven soll ja nicht das Beklagen von Missständen, sondern eine konstruktive Lösung im Vordergrund stehen. Ich als Führungskraft nehme dabei eher die Rolle eines Scrum Masters ein, indem ich mich darum kümmere, dass mögliche Probleme gelöst werden, sie aber nicht zwingend selbst löse. Dazu möchte ich zwei Beispiele geben:
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass alle Feedback-Punkte direkt per Rückdelegation an das Teammitglied zurückwandern. Die Maßnahme kann auch bedeuten, ein bestimmtes Thema in unserer Firmenretrospektive zu thematisieren. Und für mich entstehen auch immer genügend Maßnahmen in den Jour Fixes …
Ist ein Vorgehen anhand einer solchen Struktur bzw. anhand eines solchen Bogens nicht zu einengend für ein hochindividuelles Meeting wie ein Jour Fixe? Ja und nein. Wenn wir ihn sklavisch befolgen würden, wäre das so. Ich hatte aber schon Jour-Fixe-Termine, die völlig Freestyle waren und ich am Ende nichts auf dem Bogen stehen hatte, weil es gerade angemessen war. Ansonsten hilft er uns bei den Jour-Fixe-Terminen:
Ich bin sehr zufrieden damit, welche Entwicklung die Jour Fixes als Ritual gemacht haben. Ich habe das Gefühl, dass die Teammitglieder mehr Ideen einbringen, vieles transparenter geworden ist und wir schon an einigen Punkten Verbesserungen anbringen konnten. Vorher gab es nicht unbedingt immer die richtige Plattform dafür:
„… This is the free-form meeting for all the pressing issues, brilliant ideas and chronic frustrations that do not fit neatly into status reports, email and other less personal and intimate mechanisms. …“, Ben Horowitz
Durch das Ritual des regelmäßigen Feedbacks hat es seinen Eskalationscharakter verloren. Da es sich bei den Jour Fixes um ein Experiment handelt, möchte ich jetzt auch dazu Feedback bekommen. In den nächsten Wochen werden zwei Kolleginnen die Teammitglieder einzeln zu den Jour Fixes befragen und mir die Ergebnisse anonymisiert vorstellen. Ich bin sehr gespannt und werde darüber berichten …