Kontinuierliches Feedback mit Jour Fixes

Lesezeit: 8 Min, veröffentlicht am 16.06.2016
Kontinuierliches Feedback mit Jour Fixes

Bei cosee führen wir alle zwei Wochen eine Unternehmensretrospektive durch. Diese Retrospektiven betrachten die gesamte Firma bzw. das jeweilige Team und sind das zentrale Element unseres Continuous-Improvement-Ansatzes. Der einzelne Mitarbeiter steht nicht direkt im Fokus dieses Feedback-Rituals. Durch Jour Fixes haben wir ein Ritual für persönliches Feedback eingeführt.

Warum ein Jour Fixe?

Da es neben der Retrospektive kein ritualisiertes Feedback gab, war persönliches Feedback zwischen Mitarbeitern und Führungskraft eher situationsbezogen und unregelmäßig. Im September entschloss ich mich, als Führungskraft ein Experiment zu starten. Ich wollte ein regelmäßiges persönliches Feedback-Gespräch zwischen jeweils einem Teammitglied und mir etablieren. Für dieses Jour Fixe hatte ich die folgenden Ziele:

  • persönliche Retrospektive: Das Teammitglied soll die Möglichkeit bekommen, sein eigenes Handeln zu reflektieren.
  • regelmäßiges persönliches Feedback: Ich möchte den Teammitgliedern regelmäßig Feedback geben. Gleichzeitig möchte ich von ihnen auch Feedback zu meiner Arbeit bekommen.
  • Austausch in einer sicheren Umgebung: Introvertierte Mitarbeiter kommen in unseren Unternehmensretrospektiven vermutlich weniger zu Wort als extrovertierte. Sie sollen die Möglichkeit haben, ihre Ideen mal in einem Inkubator einzubringen. Zudem ist es für alle Mitarbeiter angenehmer, Probleme, Sorgen und Vorschlägen unter vier Augen zu besprechen.
  • Zufriedenheit: Ich wollte gerne einen Eindruck bekommen, wie wohl sich der Mitarbeiter fühlt, womit er zufrieden oder unzufrieden ist. Vor allem negative Punkte sind meist für sich alleine völlig undramatisch und werden von den Teammitgliedern oft nicht angesprochen. Wenn aber genügend solcher kleinen Tropfen in das sprichwörtliche Fass gefallen sind, wird es beim nächsten Tropfen überlaufen. Ich möchte regelmäßig Feedback zur Firma, dem Arbeitsumfeld etc. bekommen, damit sich negative Punkte nicht anstauen.

Mit diesen Überlegungen war ich im letzten Jahr offensichtlich nicht ganz alleine. Spotify und der CTO von vaamo (Zweck, Struktur) beleuchteten das Thema „One on Ones“ in diesem Zeitraum in Form von Blog Posts und haben ähnliche Ziele.

Woraus besteht ein Jour Fixe?

Ich treffe mich mit jedem Teammitglied alle zwei Wochen für ungefähr 30 Minuten. Wir suchen uns einen Raum, in dem wir unter vier Augen sind – zur Not tut es auch eine stille Ecke in der Cafeteria. Mit manchen Kollegen kombiniere ich das Jour Fixe auf Wunsch mit einem Mittagessen.

Als roten Faden orientieren wir uns dabei an dem im Bild gezeigten Jour-Fixe-Bogen.

Jour-Fixe Protokoll

Der obere Bereich besteht aus klassischen Retrospektiven-Elementen:

  • Was ist gut gelaufen? (jeweils Selbstbeurteilung und Feedback von mir)
  • Was ist nicht gut gelaufen? (jeweils Selbstbeurteilung und Feedback von mir)
  • Was leiten wir für Maßnahmen ab?

Dieser Teil ist sehr rational. Im unteren Bereich geht es eher um die emotionale Komponente:

  • Worüber hast du dich gefreut? Was ist dir positiv in Erinnerung geblieben?
  • Was hat dich geärgert oder ist dir negativ in Erinnerung geblieben?

Dieses Feedback ist aufgeteilt in Punkte zum Unternehmen und Arbeitsumfeld allgemein und Management Team / Führungskraft im Speziellen.

Persönliche Retrospektive

Selbstreflektion ist wichtig für die kontinuierliche Arbeit an sich selbst. Dabei hilft es, regelmäßig Antworten bspw. auf die folgenden Fragen zu finden:

  • Worauf bin ich stolz und worauf nicht?
  • Habe ich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt oder eine „Abkürzung“ genommen?
  • Wie wirke ich auf andere? Möchte ich so auf andere wirken?
  • Wie war mein Verhalten, wenn ich es mit etwas Abstand betrachte?
  • Bin ich unvoreingenommen in eine bestimmte Situation gegangen?

Diese regelmäßige „Nabelschau“ muss immer wieder trainiert werden, auch bei berufserfahrenen Menschen. Ein kontinuierliches Coaching durch die Führungskraft ist dabei aus meiner Sicht hilfreich. Zur persönlichen Verbesserung kann ich Personal Retrospectives empfehlen.

Feedback der Führungskraft

Wenn ich ehrlich bin, gab es persönliches Feedback vor der Einführung der Jour Fixes nur in bestimmten Situationen: wenn etwas Negatives vorgefallen war. Damit hatte Feedback immer gleich einen Eskalationscharakter: „Hey, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“. 🙁

Durch die Einführung eines Rituals hat das persönliche Feedback den Eskalationscharakter verloren. Die Teammitglieder sind gespannt, zu bestimmten Situationen Feedback zu bekommen. Ich werde durch das Jour Fixe daran erinnert, positive Punkte explizit anzusprechen. Es erlaubt dem Kollegen und mir, langfristig an seiner oder ihrer Entwicklung zu arbeiten.

Mancher wird sich fragen: „Warum wartest du mit deinem Feedback bis zum Jour Fixe und gibst den Kollegen nicht direkt Feedback?“. Im Jour Fixe haben wir einen sicheren Ort, um Feedback zu geben und zu besprechen („What happens in this room, stays in this room.“). Viele Arbeitssituationen bieten nicht diesen Kontext, weil das Teammitglied sich bspw. vor seinen Kollegen kompromittiert vorkommen könnte.

Außerdem muss das Geben und Annehmen von Feedback trainiert werden. Dieses Training funktioniert am Besten in einer ruhigen, sicheren, vertrauensvollen Umgebung.

Zufriedenheit

Bei diesem Punkt steht im Vordergrund wie das Teammitglied sich fühlt, wie zufrieden er oder sie mit der Arbeit bei uns ist. Viele sagen, dass der Projektstatus in einem One on One oder Jour Fixe nichts verloren hat. Nach unserer Erfahrung hängt aber ein durchaus gewichtiger Teil von der Lage im Projekt ab. Die aktuelle Lage hat bei uns einen festen Platz im Jour Fixe, ist aber nicht als Bericht an mich als Führungskraft gedacht. Wir versuchen darauf zu achten, dass das Thema nicht zu viel Raum einnimmt. Das Jour Fixe ist kein Projektstatus-Meeting!

Durch die Vier-Augen-Atmosphäre fällt es den Teammitgliedern leichter, auf Probleme oder Missstände hinweisen, die ihnen negativ auffallen oder die sie als Anregung haben. Das kann alles Mögliche sein:

  • schwierige Situation mit einem Kollegen oder einer Kollegin bzw. Kunden
  • Arbeitsraum – zu laut, zu leise, zu wenig Platz, …
  • aktuelle Aufgaben – unterfordert, überfordert, Unterstützung bei aktuellem Problem notwendig, auf Dauer nicht erfüllend
  • Zusammenarbeit, Craftsmanship

Der Vorteil dieses zweiwöchentlichen Feedbacks ist, dass die Probleme in den allermeisten Fällen noch „klein“ bzw. gerade eben erst entstanden sind. Damit fällt uns die Lösung wesentlich leichter, als für Probleme und Unzufriedenheit, die lange Zeit gewachsen sind.

Neue Teammitglieder müssen sich am Anfang erst daran gewöhnen, dass sie offenes Feedback zu allen möglichen Bereichen der Firma geben können. Die Atmosphäre ist vergleichbar mit einem ersten Date. 😉 Ich starte in dieser Situation gerne mit einer Schulnote: „Wie zufrieden bist du insgesamt mit der Arbeit bei uns?“ und „Was fehlt aus deiner Sicht zur Note Eins?“. Mit diesem Katalysator identifizieren wir gemeinsam nach und nach die Feedback-Punkte.

Feedback zur Führungskraft

Feedback ist bei uns keine Einbahnstraße. Ich möchte auch als Führungskraft laufend an mir arbeiten. Deswegen ist es mir wichtig, dazu Feedback vom jeweiligen Teammitglied zu erhalten. Hierbei dreht es sich meist um eines der folgenden Themen:

  • Vielen Dank für die Unterstützung, dadurch haben wir …
  • Das hat gut und unkompliziert geklappt.
  • Ich hätte in dieser Situation Unterstützung gebraucht, habe sie aber nicht erhalten.
  • Deine Erwartungshaltung als Führungskraft an mich ist nicht adäquat, weil …
  • Ich fühle mich von dir missverstanden.

Der Führungskraft offenes Feedback zu geben, ist noch anspruchsvoller als zur Firma oder zum Arbeitsumfeld. Das dafür nötige Vertrauensverhältnis muss über einige Zeit wachsen.

Maßnahmen

Während unseres Jour Fixe ergeben sich Maßnahmen für das Teammitglied. Meist stehen sie mit Punkten aus der Selbstwahrnehmung oder meinem Feedback im Zusammenhang. Auch aus dem Feedback des Teammitglieds können sich Maßnahmen ergeben. Wie bei allen agilen Retrospektiven soll ja nicht das Beklagen von Missständen, sondern eine konstruktive Lösung im Vordergrund stehen. Ich als Führungskraft nehme dabei eher die Rolle eines Scrum Masters ein, indem ich mich darum kümmere, dass mögliche Probleme gelöst werden, sie aber nicht zwingend selbst löse. Dazu möchte ich zwei Beispiele geben:

  • Ein Kollege äußerte im Jour Fixe, dass er sich mit der Lage im Projekt nicht gut fühlt. Er hatte das Gefühl, dass der Kunde unzufrieden mit den Ergebnissen des letzten Releases war, wusste aber nicht, was sie als Team hätten anders oder besser machen können. Wir haben uns überlegt, dass er das Team auf diese Wahrnehmung ansprechen und zu einer Retrospektive einladen könnte, um das Release aufzuarbeiten. Aus dieser Retrospektive hat das Team Erkenntnisse für seine weitere Zusammenarbeit gezogen.
  • Ein anderer Kollege fand, dass unsere Deployment-Verfahren nicht einheitlich genug waren, es verschiedene Missstände gab, die ihn persönlich aufhalten und wir nicht genügend Best Practices austauschen würden. Mit konkreten Vorgaben zu diesem Thema würde ich als CTO aber in die Selbstorganisation der Teams eingreifen. Wir haben uns deswegen überlegt, dass das Team einen Community-of-Practice-Ansatz ausprobieren würde.

Das soll natürlich nicht bedeuten, dass alle Feedback-Punkte direkt per Rückdelegation an das Teammitglied zurückwandern. Die Maßnahme kann auch bedeuten, ein bestimmtes Thema in unserer Firmenretrospektive zu thematisieren. Und für mich entstehen auch immer genügend Maßnahmen in den Jour Fixes …

Warum ein Jour-Fixe-Bogen?

Ist ein Vorgehen anhand einer solchen Struktur bzw. anhand eines solchen Bogens nicht zu einengend für ein hochindividuelles Meeting wie ein Jour Fixe? Ja und nein. Wenn wir ihn sklavisch befolgen würden, wäre das so. Ich hatte aber schon Jour-Fixe-Termine, die völlig Freestyle waren und ich am Ende nichts auf dem Bogen stehen hatte, weil es gerade angemessen war. Ansonsten hilft er uns bei den Jour-Fixe-Terminen:

  • Wir füllen nicht immer alle Bereiche aus. Das ist auch gar nicht das Ziel.
  • Wir haben ein Grundgerüst bzw. einen Leitfaden. Dadurch können auch neue Mitarbeiter einfacher in das Konzept hineinfinden.
  • Es ist eine Gedankenstütze für beide – für vergangenes Feedback und die Maßnahmen.
  • Wir behalten die Maßnahmen im Auge und können zusammen entscheiden, ob etwas abgeschlossen ist und wie die Ergebnisse waren.
  • Wenn ich gerade nicht erreichbar bin, kann sich der Mitarbeiter auch auf unsere Absprachen berufen.
  • Zusammenfassend: “Equally important is what “writing it down” symbolizes…the act implies a commitment, like a handshake, that something will be done…having taken notes, [the manager] can then follow up at the next one-on-one.” Andy Groove

Schlussbetrachtungen

Ich bin sehr zufrieden damit, welche Entwicklung die Jour Fixes als Ritual gemacht haben. Ich habe das Gefühl, dass die Teammitglieder mehr Ideen einbringen, vieles transparenter geworden ist und wir schon an einigen Punkten Verbesserungen anbringen konnten. Vorher gab es nicht unbedingt immer die richtige Plattform dafür:

„… This is the free-form meeting for all the pressing issues, brilliant ideas and chronic frustrations that do not fit neatly into status reports, email and other less personal and intimate mechanisms. …“, Ben Horowitz

Durch das Ritual des regelmäßigen Feedbacks hat es seinen Eskalationscharakter verloren. Da es sich bei den Jour Fixes um ein Experiment handelt, möchte ich jetzt auch dazu Feedback bekommen. In den nächsten Wochen werden zwei Kolleginnen die Teammitglieder einzeln zu den Jour Fixes befragen und mir die Ergebnisse anonymisiert vorstellen. Ich bin sehr gespannt und werde darüber berichten …

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Verfasst von:

Foto von Konstantin

Konstantin

Konstantin ist CTO bei cosee und Spezialist für SCRUM und agile Softwareentwicklung.