Tipps und Tricks zu Remote-Moderation aus der Praxis

Lesezeit: 7 Min, veröffentlicht am 15.06.2020
Tipps und Tricks zu Remote-Moderation aus der Praxis

Tausche Pizza und Bier gegen Kopfhörer und Maus

Intensiver Austausch, Pizza und Bier – das ist das, was unseren ScrumTisch bis vor wenigen Wochen noch ausgemacht hat. Der monatliche Stammtisch rund um Scrum und andere agilen Themen war ein fester Bestandteil unter den vielen Community-Veranstaltungen bei cosee. Der große Mehrwert bestand immer darin, bei einem gemeinsamen Treffen Diskussionen zu führen und dabei spannende Themen zu entdecken – bis das persönliche Treffen aufgrund der aktuellen Lage nicht mehr möglich war.

Mittlerweile haben die Scrum Master bei cosee jede Menge Erfahrung in der Remote Moderation sammeln können, und auch der ScrumTisch fand im Mai schon zum zweiten Mal vollständig virtuell statt.

Natürlich gibt es bereits einige tolle Blogposts zu Remote-Arbeit, virtuellem Team-Building oder Remote-Methoden. Trotzdem möchte ich, ergänzend dazu, hier meine wichtigsten Learnings aus knapp drei Monaten Moderation von virtuellen Meetings zusammenfassen und teilen.

Die Tools

Eine der häufigsten Fragen ist die Frage nach den Tools. Dabei ist zu beachten, dass gute Tools zwar wichtig sind, aber nur einen Baustein der Moderation bilden. Trotzdem soll diese Frage hier nicht unerwähnt bleiben. Bei cosee haben wir schon vor der Pandemie teilweise in Remote-Settings gearbeitet, daher haben wir in Sachen Remote-Tools schon viel Erfahrung gesammelt, auf die wir nun zurückgreifen. Nach einigen Experimenten hat sich ein gewisser Standard etabliert. Wir können eine Kombination aus “Zoom” (Videomeetings) und “Miro” (virtuelles Whiteboard) für viele Anwendungsfälle sehr empfehlen.

Neben vielen anderen Vorteilen, die Zoom mitliefert, bin ich großer Fan des “Breakout Room”-Features. Breakout-Rooms ermöglichen mir, die TeilnehmerInnen eines Meetings in kleinere Gruppenräume zu schicken. Das sorgt oft für mehr psychologische Sicherheit. In kleineren Gruppen ist die Hemmschwelle für einen effektiven Austausch niedriger als in großen Videomeetings. Das bedeutet, dass viele Menschen im kleinen Rahmen eher mal Dinge nachfragen, etwas kommentieren oder einen Beitrag zur Diskussion leisten.

Zwei Tage vor dem ersten virtuellen ScrumTisch veröffentlichte auch Miro ein weiteres Feature, das für unsere Arbeit mittlerweile unerlässlich ist: die Gast-Editoren. Ich kann nun ein virtuelles Whiteboard erstellen und den Link dazu teilen. Alle, die den Link bekommen, können nun ohne Anmeldung gleichzeitig an diesem Whiteboard arbeiten.

Breakout-Sessions einrichten

Die Vorbereitung

Remote-Moderation braucht nicht mehr Vorbereitung als Präsenz-Meetings – aber eine andere. Statt Räume vorzubereiten, Flipcharts zu gestalten und Material bereitzustellen, müssen jetzt Video-Räume angelegt und virtuelle Whiteboards gestaltet werden.

Daher ist wichtig: Kenne deine Tools und sei auch in der Lage, sie in wenigen Worten für Neulinge zu erklären!

Um in der Moderation flexibel zu bleiben, muss man etwas vorausdenken. Manchmal möchte ich die Art der Beteiligung ändern oder eine spontane Übung einbauen. In der physischen Welt ist das relativ einfach. Die Gruppe lässt sich leicht mal eben in Kleingruppen aufteilen. In der virtuellen Welt braucht das etwas Zeit. Solche Dinge kann man aber gut vorbereiten, auch wenn sie nicht zur geplanten Agenda passen – nur für den Fall.

Ein weiterer Punkt, den ich immer stärker in der Vorbereitung beachte, ist die Kontrolle der Aufmerksamkeit. In einem virtuellen Meeting sind die Teilnehmer schnell abgelenkt. Das ist nicht verwunderlich, wenn Twitter und Co. wenige Klicks entfernt sind. Daher ist es wichtig, sich bereits in der Vorbereitung darüber Gedanken zu machen, wie man den gemeinsamen Fokus der Gruppe gekonnt steuern kann. Ähnlich wie bei gutem UX-Design kann eine gute Moderation die Aufmerksamkeit der Teilnehmer gezielt von einem Punkt zum nächsten leiten.

Das Tool Miro bietet hier eine Vielzahl an Möglichkeiten:

  • “Start View” setzten: statt die TeilnehmerInnen zum Einstieg mit einem Blick auf das gesamte Board zu erschlagen, kann man hier einen Ausschnitt als geschickten Startpunkt wählen. Start-View setzen
  • “Frames” & “Präsentationsmodus” verwenden: über den Präsentationsmodus können die TeilnehmerInnen von Frame zu Frame springen, damit sie nicht den Überblick verlieren. Frames und Präsentationsmodus
  • “Lock”: Über das Schloss-Symbol können Elemente auf dem Board fixiert werden, sodass die vielen Bearbeiter sie nicht verschieben können. Lock-Funktion
  • “Shape”-Tool zum Abdecken: Manche vorbereiteten Bestandteile des visualisierten Moderationsprozesses möchte man eventuell noch nicht von Beginn an zeigen. Diese kann man einfach über das “Shape”-Tool mit einer Fläche abdecken und diese fixieren. So bleibt die Aufmerksamkeit immer da, wo sie hin soll. Shape-Tool

Ein guter Start

Ein fast schon klassischer Satz aus der Gruppenmoderation ist “Störungen gehen vor”. Dies gilt insbesondere auch für Remote Meetings, denn technische Störungen sind fast unvermeidbar: der Zutritt zum Meetingraum klappt nicht, Mikrofone sind stumm, die “Bildschirm teilen”-Funktion ist deaktiviert, etc. Hier hilft nur Geduld und ein paar treffsichere Hinweise zur Bedienung der Tools. Darüber hinweg zu gehen ist allerdings keine gute Idee, denn es soll niemand abgehängt werden.

Generell kann man vorab etwas Zeit einplanen, damit die TeilnehmerInnen schon ihre Technik checken können. Das Meeting sollte aber trotzdem pünktlich starten, denn niemand sollte für seine Pünktlichkeit bestraft werden.

Wie auch in Präsenz-Meetings können Vorstellungsrunden schnell zeitlich ausarten. Sie ganz wegzulassen ist bei vorher unbekannten Gruppen allerdings keine gute Idee, da die persönliche Nähe durch das verteilte Setting sonst noch schwerer herzustellen ist. Es gibt aber Methoden, die diese Phase kurz und schmerzlos überbrücken; z.B. kann man den TeilnehmerInnen folgende Aufgabe stellen: “Sucht einen persönlichen Gegenstand aus eurer Wohnung und haltet ihn in die Kamera”. Anschließend kann man kurz einzelne Gegenstände kommentieren lassen.

Bei größeren Gruppen kann es auch sinnvoll sein, zu zweit zu moderieren. So kann eine Person sich voll und ganz auf die inhaltliche Moderation konzentrieren, während die andere beispielsweise den Warteraum verwaltet, den Chat bei Fragen im Auge behält oder die Breakout-Sessions vorbereitet. Beim ScrumTisch haben wir damit sehr gute Erfahrungen gemacht.

Interaktion in virtuellen Räumen

Im Verlauf der Moderation kommt man zwangsweise in die Situation, in irgendeine Art Interaktion mit den Teilnehmern zu gehen. Dabei führen offene Fragen in die Runde meistens zu betretenem Schweigen. Die Gruppe hat, im Gegensatz zur Präsenz-Meetings, keinerlei Gespür dafür, wer etwas sagen möchte. Moderativ kann dem auf mehreren Wegen begegnet werden:

  • Kleinere Gruppen: Was in der Präsenz-Welt bei Methoden wie beispielsweise “1-2-4-all” aus den Liberating Structures hilft, hilft natürlich auch in Remote Settings. Menschen tun sich bei Unsicherheit zunächst leichter für eine Gruppe zu sprechen, als für sich alleine. Nach kurzer Diskussion zu zweit oder zu dritt in kleinen Breakout-Räumen für maximal 3 Minuten läuft die anschließende Diskussion meist flüssiger.
  • Offene Fragen in geschlossene Fragen umwandeln: Statt “Wie sieht es bei euch aus bezüglich einer Pause?”, kann man fragen “Ich würde vorschlagen, jetzt eine Pause zu machen. Ist jemand dagegen?”
  • Aufrufen: Es hilft an vielen Stellen auch, beherzt einzelne Personen aufzurufen, um deren Gedanken zu hören. Das ist etwas ungewohnt, weil man das in Präsenz-Meetings seltener tun würde, aber alle gewöhnen sich daran. Ein netter Nebeneffekt ist auch, dass nicht immer “die Lauten” reden. Auch bei der Präsentation von Ergebnissen aus Kleingruppenarbeiten kann der Moderator die Gruppen anhand der erstellten Artefakte aufrufen, z.B. “Wer hat denn die blauen Stickies rechts oben geschrieben? Könnt ihr das erläutern?”. Das beschleunigt die Koordination der Sprechreihenfolge.
  • Für einfachere Angelegenheiten, wie kurze Abstimmungen, ermutige ich die TeilnehermInnen gerne dazu, die “Reaktion”-Buttons in Zoom zu verwenden.

Virtuelle Gruppenpsychologie

Zu guter Letzt ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, inwiefern sich gängige gruppenpsychologische Phänomene, die man aus der Präsenz-Welt kennt, auch auf die neuen Umstände übertragen lassen.

“Menschen sind Herdentiere” – ab und zu hört man solche oder ähnliche Sätze. Ganz korrekt ist diese Aussage nicht. Was dahinter steckt, ist das, was in der Psychologie als “Anschlussmotiv” bezeichnet wird. Die Bindung zu anderen Personen ist uns wichtig, weshalb wir hypersoziale Wesen sind.

Bei cosee arbeiten wir seit März “fully remote”. Somit fällt das Schwätzchen auf dem Gang oder der Austausch beim gemeinsamen Mittagessen weg. Die Erfüllung des Anschlussmotivs leidet erheblich darunter. Auch in der Moderation von Remote Meetings kann man selbst einen kleinen Beitrag dazu leisten, diese Verbindungen trotzdem herzustellen: Meetings 5 Minuten früher starten, private Nebendiskussionen zulassen, längere Timeboxen, etc.

Weiter ist es wichtig, das bestehende Handwerkszeug der Moderation auf remote-Tauglichkeit zu überprüfen. Ein Beispiel: Ich verwende häufig die Moderationsmethode des Brainwritings. Hier machen sich die TeilnehmerInnen in einer stillen Arbeitsphase unabhängig voneinander, jeweils für sich alleine, Gedanken zu einem Thema, und schreiben diese auf Klebezettel. Anschließend wird in der großen Runde gesammelt und diskutiert, was aufgeschrieben wurde. Das hat den Effekt, dass in den anschließenden Sammelphasen anhand von Mehrfachnennungen oder Häufungen gut zu erkennen ist, wo wichtige Punkte für die gesamte Gruppe liegen.

Bei der Arbeit mit einem digitalen Whiteboard wie Miro ist das grundsätzlich anders. Die TeilnehmerInnen sehen gegenseitig, was andere gerade schreiben. So ist der Einfluss untereinander größer und Mehrfachnennungen sind seltener. Hier gilt es, ein gutes Gespür dafür zu entwickeln, und dabei gegebenenfalls tiefer nachzufragen. Der gewohnte Effekt dieser Brainwriting-Methode lässt sich also nicht 1-zu-1 als remote-Methode übertragen. Das ist allerdings nur ein Beispiel. Viele der gewohnten Methoden müssen für den virtuellen Kontext neu gedacht werden. Dieser Tatsache muss man sich bewusst sein.

Guter Austausch geht auch ohne Pizza und Bier

Nach fast drei Monaten vollständiger Remote-Arbeit hat sich ein Gewöhnungseffekt eingestellt. Es ist erstaunlich, wie gut auch teils intensive emotionale Einzelgespräche mit MitarbeiterInnen oder große Gruppen in diesen Umständen möglich sind.

Dennoch wird sich hier auch sicher noch einiges ändern. Die Tools werden ständig weiterentwickelt, was neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit ermöglicht. Die TeilnehmerInnen werden erfahrener und man kann neue Dinge ausprobieren. Ich bin gespannt, wie es weiter geht!

Kommt zum ScrumTisch vorbei!

Am 18. Juni laden wir erneut zum ScrumTisch ein. Auch hier sammeln wir wieder gemeinsame Erfahrung zur virtuellen Moderation. Diesmal ist Gerrit Beine zu Gast mit dem Thema “Mastering Cargo Cult: Dunning, Kruger und die Agile Bias Curve”. Nachdem wir uns vergangenen Monat mit der Entwicklung von Werten beschäftigt haben, soll es nun damit weitergehen, wie Kulturentwicklung funktioniert und warum Methoden letztlich auch “Cargo Cult” sind.

Wir hoffen einen guten Austausch moderieren zu können - für Pizza und Bier muss aber diesmal jeder selbst sorgen.

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Verfasst von:

Foto von Felix

Felix

Felix ist Scrum Master und Agile Coach bei cosee und beschäftigt sich täglich mit SCRUM und der digitalen Transformation.